Die Achtsamkeit des Langstreckenläufers

Scroll down for English                  Der Genfer Leichtathletiker und Europa-Rekordhalter Julien Wanders bereitet sich in Kenia auf seine ersten Olympischen Spiele vor. Ein grosser Teil des Trainings besteht darin, sich mental für den Event zu stählen. Ein Besuch vor Ort.

Eldoret, Kenia, 3. April 2021. An diesem Samstagmorgen hat Julien Wanders Mühe auf der Bahn. Laut Trainingsplan sollte er 2000 Meter in 2:55 Minuten pro Kilometer rennen, steigt aber nach 1600 Metern aus. Es ist früh und still und neblig; in der Nacht zuvor regnete es. Der Tartan ist rutschig. Wanders wechselt die Schuhe, macht eine kleine Pause und steigt wieder ein. Die Sonne, die nun langsam aufgeht, beleuchtet die Atemwolken, die er und seine Trainingskollegen im Rhythmus ihrer Schritte ausstossen.

Wanders fügt sich mit seiner Grösse und seinem Körperbau perfekt in die Gruppe von Kenianern ein. Obwohl er sich sehr anstrengt, sind seine Bewegungen flüssig und entspannt, seine Beine — weiss, muskulös, seidenglatt — spektakulär. Am Schluss holt er die fehlenden 400 Meter alleine nach und dreht noch ein paar Extrarunden. Beim Umziehen danach sagt er, dass er sich schwach fühlt und ausser Atem ist. Die Woche darauf fehlt er im Training. Diagnose: Lungenentzündung.

Kleines Monster

 

Der 25-jährige Julien Wanders wurde in Genf in eine Musikerfamilie geboren. In der Primarschule übersprang der blitzgescheite Junge eine Klasse und fing mit sieben mit der Leichtathletik an. Als Teenager gab er alle anderen Hobbies auf und konzentrierte sich nur noch auf den Sport. Oft schwänzte er die Schule und ging stattdessen laufen. Gleichzeitig verschlang er alles, was ihm über die in Wettkämpfen dominierenden Kenianer in die Hände kam. Langsam wuchs in ihm der Wunsch, mit ihnen zu trainieren, genau so schnell wie sie zu werden — oder sie sogar zu schlagen. «Ich war der erste in unserem Verein, der international erfolgreich sein wollte. Die anderen zielten auf Schweizer Rekorde. Zwischen 16 und 18 wurde ich immer schneller und realisierte, dass mein Traum Wirklichkeit werden könnte.»

 

Kurz nach der Matur, mit achtzehn, besuchte Julien zum ersten Mal das Laufmekka Iten in der westkenianischen Rift Valley Province. Er fühlte sich in der verschlafenen Kleinstadt, umgeben von Wäldern und Hügeln, bevölkert von Horden von Athleten, sofort zu Hause: «In Iten konnte ich mich endlich voll und ganz aufs Training konzentrieren und musste mich niemandem mehr erklären.» Drei Jahre später liess er sich endgültig in Kenia nieder und teilt heute mit seiner Freundin, der Englischlehrerin Joan Jepkorir Kiprop, die von allen «Kolly» genannt wird, eine kleine Wohnung. Zwischen den beiden herrscht eine Komplizenschaft; sie unterstützt den introvertierten Wanders emotional, wo sie nur kann. In ihrer Freizeit läuft auch sie, manchmal zusammen mit ihm und seiner Gruppe.

Nach Wanders’ Umzug nach Kenia stellten sich Erfolge ein: Zwei Europarekorde, über 10 Kilometer (27:13) und im Halbmarathon (59:13), sind unter Dach und Fach, und schon vor zwei Jahren hat er sich in 27:17, 29 Minuten für 10’000m Bahn an den Olympischen Spielen in Tokio qualifiziert.

 

Seinen Alltag in Kenia lebt Wanders mittlerweile sehr selbstverständlich: Er trainiert zweimal am Tag, stemmt im Fitnessstudio das Doppelte seines Körpergewichts (110 kg) und hört dabei Old School Hip Hop. Spricht er Englisch, hört er sich an wie ein Kenianer. Nach harten Workouts lädt er seine Kollegen zum Frühstück ein. Sie nennen ihn liebevoll «Chemosi» — ein lokaler Ausdruck, der «kleines Monster» bedeutet. Er macht täglich zwei Siestas und geht jeden Abend sofort nach dem Essen ins Bett, um neun Stunden zu schlafen. Er ist oft schweigsam und angespannt vor Trainingseinheiten — und gelöst danach.

Innerer Frieden

 

Juliens Idol, der Kenianer Eliud Kipchoge, ist nicht nur Weltrekordhalter im Marathon, sondern auch ein Mann, der gerne übers Laufen philosophiert. Vor seinem Sub-2-Marathon in Wien, bei dem Wanders einer seiner Tempomacher war, sagte er: «Entweder du beherrschst deinen Geist, oder wirst von deinem Geist beherrscht.» Oder: «Laufen ist 50% körperliche und 50% mentale Arbeit.» «Das stimmt 100%», sagt Wanders. «Wenn ich innerlich ruhig bin, renne ich schnell. Nur leider ist das nicht immer so einfach: Manchmal habe ich Stress, Probleme mit anderen oder in Beziehungen, obwohl ich es gar nicht will.»

 

Als Mensch kann man sich entscheiden, das Leben eher positiv oder eher negativ zu betrachten, und Wanders arbeitet deswegen viel an seiner Perspektive. Er meditiert täglich eine halbe Stunde, meistens vor dem Mittagessen. Immer öfter postet er inspirierende Texte zu Achtsamkeit auf Instagram und gibt seinen Followern Tipps für mentale Stärke. Und wie andere Elite-Athleten setzt er sich Ziele. Katie Ledecky beispielsweise, die momentan schnellste Schwimmerin der Welt, nimmt sich Zeiten vor, die ihr Angst machen, die zu erreichen ihr unmöglich erscheinen. Dann nähert sie sich ihnen Poolbahn um Poolbahn an. Wanders bestätigt: «Ziele zu haben ist alles im Sport, sowohl grosse — die Olympischen Spiele oder einen Weltrekord im Marathon — wie auch kleine: Wettkämpfe, an denen ich antrete, um meine Form zu testen.» Es ist ihm wichtig, während des mörderischen Höhentrainings genau zu wissen, wofür er sich verausgabt.

Um an einem Wettkampf das bestmögliche Resultat zu erlaufen, müssen viele Faktoren stimmen. Kipchoge soll sogar die Technik, während eines Marathons seine Trinkflasche vom Tisch zu greifen, perfektioniert haben. Doch der Körper ist unberechenbar, das ist zu akzeptieren; Kälte, Wind oder eine Lungenentzündung im Vorfeld können einem einen Strich durch die Rechnung machen. Viele Läufer berichten jedoch, dass nicht die physische Form das Problem sei, sondern der innere Druck, den sie sich vor dem Rennen aufbauen, und am dem viele — wie auch Wanders ab und zu — im entscheidenden Moment scheitern. Idealerweise sollte man deshalb seine Gedanken nicht allzu ernst nehmen: «Gedanken sind bloss Gedanken. Sie kommen und gehen … man darf ihnen nicht zu viel Bedeutung zumessen», sagt Wanders. «Wenn ich während dem Laufen das Gefühl bekomme, dass ich mich kaum mehr bewegen kann, versuche ich, in einen Zen-Zustand zu geraten und dem Schmerz entgegenzulächeln.»

Fluch und Segen

 

Als Kind haben Wanders’ Eltern ihm und seinen zwei Schwestern auf den Weg gegeben, dass man keine halben Sachen macht und nicht einfach den Bettel hinschmeisst, sobald der Weg steinig wird. Wanders hat sich dieses Gebot zu Herzen genommen: Seit er sich fürs Laufen entschieden hat, gibt es in seinem Leben neben der Leichtathletik wenig Platz für anderes. Trainieren, essen, schlafen: Das macht ihn am glücklichsten.

 

Ein zu enger Fokus hingegen kann für Athleten gefährlich werden. Wenn alles, was vom Training abhält, als Hindernis angesehen wird, fühlt man sich mehr und mehr wie eine Gefangene des Sports. Viele Athleten leiden an Depressionen; die Tennisspielerin Naomi Osaka und der Schwimmer Michael Phelps haben ihre unlängst publik gemacht. Wanders erzählt ehrlich, dass er unter seiner Leidenschaft manchmal leidet. «Ich liebe das Laufen so sehr: Es ist Fluch und Segen gleichzeitig. Früher war ich dazu noch unglaublich ungeduldig. Könnte ich dem jungen Julien heute einen Rat geben, wäre es dieser: Nimm es bitte locker, sei nicht so hastig. Du hast doch genug Zeit!» Mitunter fällt es ihm schwer, mit Enttäuschungen umzugehen. «Früher habe ich nach einem schlechten Resultat jeweils eine Woche lang mit niemandem geredet, weil ich so frustriert war. Jetzt fühle ich mich zwar nicht besser danach, aber ich gebe mir mehr Mühe: Die anderen können schliesslich nichts dafür.»

Schwere Beine

 

Wanders wird seit letztem Jahr vom Italiener Renato Canova gecoacht, der in Athletenkreisen berühmt-berüchtigt ist: Seine Trainingspläne sind streng und verlangen absolute Konzentration und Hingabe. Es ist schwierig für Julien, sich Schwächen einzugestehen und zurückzustecken, doch dank Canovas Autorität lernt er, auf seinen Körper zu hören, besser zu regenerieren, und trotz gelegentlichen Dämpfern nicht in Selbstzweifeln zu versinken.

 

Wanders läuft bis zu 220 km pro Woche. «Meine Beine fühlen sich immer schwer an», sagt Wanders, nicht klagend, sondern zufrieden. «Deshalb ist es OK, auch mal ein paar Tage Pause zu machen.» Eine solche Aussage wäre dem jungen Julien nicht mal im Traum über die Lippen gekommen. Heutzutage schafft er es ohne schlechtes Gewissen, drei Tage mit seiner Mutter auf Safari zu verbringen oder sich mit Kolly für ein verlängertes Wochenende in einem Luxushotel zu verschanzen. Und dank dieser Gelassenheit werden auch seine Beine schneller wieder leichter und können post-Tokio Kurs nehmen auf ein weiteres grosses Ziel: Wanders’ ersten Marathon.

 

Eine Version dieses Artikels erschien am 18. Juni 2021 im Migros Magazin. Copyright Text und Fotos © 2021 Elisabeth Real.

The Calmness of the Long-Distance Runner

 

The Swiss athlete and European record holder Julien Wanders is preparing for his first Olympics in Kenya. A large part of his training consists of steeling himself mentally for the event. A visit on site.

 

Eldoret, Kenya, April 3, 2021. Julien Wanders is struggling on the track this Saturday morning. According to his coach’s program, he should run 2000 meters, but stops after 1600 meters. It’s early and quiet and foggy; it rained the night before. The tartan is slippery. Wanders changes shoes, takes a short break and continues. The sun, which is slowly rising now, illuminates the clouds that he and his colleagues breathe to the rhythm of their steps. With his size and physique, Wanders fits perfectly into the group of Kenyans. Although he’s working very hard, his movements are fluid and relaxed, his legs—white, muscular, silky— spectacular. In the end, he makes up the missing 400 meters by himself and adds a few extra laps for good measure. As he changes afterwards, he says that he feels weak and out of breath. The following week he’s absent from training, suffering from pneumonia.

Little Monster

 

The 25-year-old Julien Wanders was born in Geneva into a family of musicians. In primary school, the brilliant boy skipped a grade and took up athletics at the age of seven. As a teenager he gave up all other hobbies and concentrated only on running; he became obsessed with it. He often skipped school and went training instead. At the same time, he devoured everything that came into his hands about the Kenyans who dominate the sport. The desire grew in him to train with them, to become just as fast as them…to beat them, even. “I was the first in our club who wanted to be internationally successful. The others were aiming for Swiss records. Between 16 and 18 I kept getting faster and realized that my dream could become true.”

 

Shortly after graduating from high school, at the age of eighteen, Julien visited the running mecca Iten in the West Kenyan Rift Valley Province for the first time. He immediately felt at home in this sleepy town, surrounded by forests and hills, populated by hordes of athletes: “In Iten, I could finally focus on training and no longer had to explain myself to anyone.” Three years later, he settled in Kenya for good and now shares a small apartment with his girlfriend Joan Jepkorir Kiprop, who is known by everyone as “Kolly.” There is a complicity between the two; she supports her introverted boyfriend emotionally wherever she can. In her free time she also runs, sometimes with him and his group.

 

After the move, success arrived: two European records, over 10 kilometers (27:13) and in the half marathon (59:13), are signed and sealed, and two years ago, he qualified for the 10,000m track race at the Olympic Games in Tokyo in 27:17, 29 minutes.

 

Wanders lives his everyday life in Kenya with ease: He trains twice a day, and lifts twice his body weight (110 kg) in the gym while he listens to old school hip hop. When he speaks English, he sounds like a Kenyan. After hard workouts, he treats his colleagues to breakfast. They affectionately call him “chemosi,”a local expression meaning “little monster.” He takes two siestas a day and goes to bed immediately after dinner every evening to get nine hours of sleep. He is silent and tense before training—and relaxed afterwards.

 

Inner Peace

 

Julien’s idol, the Kenyan Eliud Kipchoge, is not only the marathon world record holder, but also a man who likes to philosophize about running. Before his Sub-2 marathon in Vienna, during which Wanders was one of his pacemakers, he said: “Either you control your mind, or you are controlled by your mind.” Or: “Running is 50% physical and 50% mental work.” “That’s 100% true,” says Wanders. “When my mind is at peace, I run fast. Unfortunately, it’s not always that easy: Sometimes I’m stressed, or I run into problems with others, even though I don’t want to.”

 

As a person, one can choose to look at life positively or negatively, and Wanders therefore works a lot on his perspective. He meditates for half an hour every day, usually before lunch. More recently, he’s been posting musings on mindfulness on Instagram, and giving his followers advice for mental strength. And like other elite athletes, he’s a goal setter. Katie Ledecky for example, currently the fastest swimmer in the world, imagines times that scare her, that seem impossible for her to reach. Then she closes in on them, pool lane by pool lane. Wanders confirms: “Having goals is everything in sports, both huge ones—the Olympic Games or a marathon world record—as well as minor ones: competitions I do mostly to test my form.” It’s important to him to know what exactly he suffers for during the grueling altitude training.

In order to achieve the best possible result in a competition, many factors have to be just right. Kipchoge is said to even have perfected the technique of grabbing a water bottle from the table during a marathon. But the body is unpredictable; that’s to be accepted, and a flu in the run-up to a race can quickly thwart one’s plans. However, many runners report that the problem is not the physical form, but the internal pressure that builds up before a race, and because of which many—like Wanders from time to time—fail in the decisive moment. That’s why, ideally, one shouldn’t take one’s thoughts too seriously. “Thoughts are just thoughts. They come and go…you shouldn’t attach too much importance to them,” says Wanders. “When things get tough, I try to get into a Zen state and smile at the pain, even if I feel I can barely move.”

Curse and Blessing

 

As a child, Wanders’ parents taught him and his two sisters that you don’t do things half-way; you don’t just give up as soon as the road gets bumpy. Wanders has taken this advice very much to heart: Since he’s decided to focus on running, there has been little room in his life for anything else: Eat, train, sleep, repeat: that’s what makes him happiest.

 

Such narrow focus can be dangerous for athletes, however. When everything that prevents you from training is seen as an obstacle, you begin to feel more and more like a prisoner of the sport. The fear of failure becomes insurmountable. According to studies, almost half of all athletes struggle with depression; swimmer Michael Phelps and tennis player Naomi Osaka, for example, recently made theirs public. And Wanders is the first to admit that he, too, sometimes suffers from his doggedness. “I love running so much: It’s both a curse and a blessing. I used to be incredibly impatient, it really killed me. If I could give my younger self some advice today, it would be this: Please take it easy, don’t be so hasty! There’s a time for everything.” He’s calmed a lot, but still finds it difficult to deal with disappointments. “I used to stop talking to my friends and family for a week after a bad result because I was so frustrated. Now I don’t feel any better afterwards, but I try harder: After all, it’s not their fault.”

Heavy Legs

 

Since last year, Wanders is coached by the Italian Renato Canova. Canova is notorious among athletes: His training plans are strict and require absolute concentration and dedication. It’s difficult for Julien to admit weaknesses, but thanks to Canova’s authority he learns to listen to his body, to recuperate, and not to give into self-doubt despite occasional dampers.

 

Wanders runs up to 220 km per week. “My legs now are always heavy,” says Wanders, not complaining, but sounding satisfied, rather. “So it’s totally OK to take a few days off every once in a while.” His younger self would have never uttered such a phrase, not even in his wildest dreams. Nowadays, Wanders even manages to spend three days with his mother on safari without guilt, or to hole up with Kolly for an extended weekend in a luxury hotel. And thanks to this new serenity, his legs will get lighter and set course for another big goal, post-Olympia: Wanders’ first marathon.

 

A version of this article was published in Migros Magazin in June 2021. Copyright text and photos © 2021 Elisabeth Real.