These Anakao Days

Scroll down for English.                  Anfangs März veröffentlichte ich auf Instagram einen Surfkitsch-Post: Mein heiss geliebtes Board, hier am Strand in Anakao bei Sonnenaufgang fotografiert, mit der Zeile “One of these days—and it's gonna be right soon—you'll find your legs, and go, and stay gone.”* Das war prä-Corona, und ich ahnte damals noch nicht, wie sehr sich diese Worte in den kommenden Monaten bewahrheiten würden.

Ein halbes Jahr lebe ich nun schon in diesem Fischerdorf im Südwesten Madagaskars, das sich an eine türkisblaue Lagune schmiegt und nur per Boot erreichbar ist. An mondlosen Nächten taucht das Glimmen der Milchstrasse die Hütten und die am Strand parkierten Pirogen in einen nebligen Schleier. Ich kam ursprünglich zum surfen hierher; als der Präsident wenige Tage nach meiner Ankunft ankündigte, die Insel wegen Covid-19 abzuriegeln, aber trotzdem noch kurz die Möglichkeit bestand, seine Siebensachen zusammenzuraffen, Flüge umzubuchen und den Rückweg nach Europa anzutreten, beschloss ich zu bleiben.

 

Seit zwei Jahren verbringe ich einen Grossteil meiner Zeit in Madagaskar. Die Vorstellung, wegen Corona in die Schweiz zurückzukehren, ohne zu wissen, wann ich das Meer und die Insel je wiedersehen würde, erschien mir unerträglich.

Vor meinem Umzug hatte ich 18 Jahre lang in Zürich gelebt und als selbständige Fotografin gearbeitet, eine Kombination, die mich im Laufe der Zeit immer mehr und mehr frustrierte. 2018 beschloss ich, dieser Sache ein Ende zu bereiten. Ich wollte endlich das in Angriff nehmen, was im tiefsten Innern mein Traum war: als Fotojournalistin in Afrika zu arbeiten, und ich wusste, das würde nur funktionieren, wenn ich auch meinen Arsch nach Afrika bewegte.

 

Ich hatte nichts zu verlieren. Vielleicht würde alles den Bach runter gehen. Eventuell aber auch nicht. Wie sonst weiss ich, wo meine Grenzen liegen, wenn ich sie nicht auslote? Schon nur die Tatsache, in der Wärme zu leben, machte vieles einfacher, und in den letzten zwei Jahren gelang es mir, mich meinem Traum anzunähern: Ich recherchierte, schrieb Proposals, fotografierte und interviewte, knüpfte neue Kontakte mit internationalen Redaktionen, und bekam nach einer Weile tatsächlich Aufträge. Ich arbeitete in Madagaskar, in Mauritius, in Kenia und Südafrika, reiste nach New York für Portfolio-Interviews, und ab und zu auch zurück in die Schweiz, wenn ich dort einen Job hatte. Gleichzeitig schloss ich ein Buchprojekt über Schwarze Lesben in Johannesburg ab, an dem ich sieben Jahre lang gearbeitet hatte. Ich verbrachte nie länger als drei Wochen an einem Ort, und egal, wo ich mich befand, ich wurde magisch vom Wasser angezogen und versuchte, Wellen aufzutreiben. Wenn ich nicht in Mada war, vermisste ich die Insel in meinen Knochen.

 

Als ich im März in Anakao ankam, war mein ursprüngliches Ziel, fünf Wochen zu bleiben, so viel wie möglich zu surfen, zu lesen, ab und zu ein wenig zu schreiben, mein Malagasy zu verbessern, aber vor allem mal “mein Leben zu geniessen.” Ich hatte das in letzter Zeit verlernt.

 

Ich habe oft den Eindruck, selbst gar kein Leben zu haben, sondern immer nur die Leben anderer zu dokumentieren … darin fühle ich mich sicher; es fällt mir nicht schwer, diese anzuschauen und mich dafür zu interessieren. (In dunklen Momenten frage ich mich ab und zu, ob ich vielleicht sogar daran zweifle, ein eigenes Leben überhaupt zu verdienen?) Ich hatte immer das Gefühl, ich müsse mich zuerst beweisen, ich müsse etwas leisten, bevor ich zu mir schauen konnte. Warum? Keine Ahnung. Die meisten Menschen, die ich kenne, sind nicht von dieser inneren Unruhe getrieben, und oft beneide ich sie. Je länger ich hier bin, desto mehr fällt mir meine Rastlosigkeit auf. Die grösste Herausforderung während des Lockdowns ist für mich, mich unproduktiv zu fühlen und einen Weg zu finden, damit umzugehen.

 

Ich kam nach Anakao mit nicht viel mehr als einem Board und einem Paar Shorts. Als mir im April klar wurde, dass ich hier nicht so schnell wieder wegkommen würde, fing ich an, mir ernsthaft Sorgen zu machen. Sollte ich nicht nonstop Malagasy Vokabeln büffeln? Meine Kameras hatte ich in Antananarivo gelassen — wenn ich schon nicht fotografieren kann, müsste ich doch täglich mindestens drei Stunden schreiben? Und im Wasser will ich jetzt aber Fortschritte sehen! Je mehr ich mich unter Druck setzte, desto weniger klappte es, und desto frustierter mit meinem Ehrgeiz wurde ich. Ab und zu fühle ich mich hier wie eine komplette Versagerin, alleine am Ende der Welt, ohne Mission und ohne Ziel. Dann verfluche meinen Entscheid, zu bleiben, und grüble darüber nach, warum ich bloss so naiv war.

 

Oft schäme ich mich für diese inneren Konflikte und Unsicherheiten, die mir verglichen mit richtigen Problemen belanglos vorkommen. Ich bin so privilegiert: Ich habe ein Dach über dem Kopf, zu essen und keine Geldsorgen, im Gegensatz zu den Menschen im Dorf, die wegen dem corona virusy langsam verzweifeln. Der Lockdown, der sich seit März hin zieht, hat mit ihren Leben nichts zu tun, und ich habe den Eindruck, es fällt ihnen schwer, die Tragweite der Pandemie zu erfassen: Die wenigsten sind schon je aus der Provinz raus gekommen. Die Hauptstadt Antananarivo ist seit März abgeriegelt und die Fallzahlen dort steigen. In Anakao gibt es keine Covid-19-Kranken, aber eine Ausgangssperre, und die Schule ist seit März geschlossen; manchmal kommen Gendarmen für ein paar Tage vorbei und patrouillieren, dann tragen alle brav ihre Masken. Kaum reisen sie ab, werden diese wieder verstaut.

 

Anakao lebt hauptsächlich vom Tourismus, aber die meisten Hotels sind längst zu, und die Dorfbewohner haben Hunger. Die Preise für Grundnahrungsmittel haben sich verdoppelt, während der Fischverkauf komplett eingebrochen ist: Wenn jeder selbst fischen geht, kauft niemand mehr Fisch. Zwei Frauen haben mir berichtet, dass vor kurzem ihre épiceries überfallen wurden. Wenn mir die Leute ihre Sorgen erzählen, spüre ich ihre Anspannung. Ein Fischer, den ich ab und zu beim Kaffee antreffe, meinte, wenigstens hätte er nun genügend Zeit, um über das Leben nachzudenken. Leider sei er zum Schluss gekommen, dass das Leben schwer sei. Ich konnte ihm nur beipflichten.

Der wahre Grund, warum ich in diesem Kaff ohne Strom und fliessend Wasser bleiben wollte, ist der Ozean — dieses seltsame Biest, das nur das macht, was es will, das sich von Stunde zu Stunde verändert … das mich momentan Dinge lehrt, die zu lernen ich anscheinend dringend nötig hatte.

 

Die Malagasy nennen das Meer ranomasina, “heiliges Wasser”. In Südafrika erzähle mir ein Surfer anfangs Jahr, dass er das Meer so liebe, weil der Ozean seine Seele reinige, und ich fragte mich noch, was hat die Seele dieses 22-jährigen in seinem jungen Leben denn an Schmutz schon angereichert, aber ich denke hier täglich an seine Worte zurück.

 

Es ist wahr: Der Ozean absorbiert Trauer und Wut, und macht mein Herz, das oft schwer ist, leichter. Es interessiert das Meer nicht, ob ich eine gute Surferin bin oder nicht, und ich kann es nicht zwingen, mir wohlgesinnt zu sein. Um diese doch recht offensichtliche Tatsache zu erkennen und zu akzeptieren, habe ich einige Monate gebraucht. An den Tagen, an denen ich voller Motivation zum Riff hinaus fahre und denke, heute werde ich allen zeigen, dass ich Kelly Slaters Inkarnation bin, erwische ich keine einzige Welle und heule mir danach in meinem Strandhäuschen vor lauter Frustration und Enttäuschung die Seele aus dem Leib.

 

An den Tagen, an denen ich mutlos und verzagt auf der Piroge sitze, dringend einen Espresso nötig hätte und mir dann irgendwann sage, ok, jetzt, wo ich schon mal hier bin, gebe ich mir dreissig Minuten von dieser Scheisse, aber keine einzige mehr … an diesen Tagen öffnet sich mir der Ozean und ich fühle mich bei jeder der zahllosen Wellen, auf denen ich gleite, wie von Gott geküsst, kehre nach vier Stunden erschöpft, aber strahlend und voller unbändiger Freude nach Hause zurück, erzähle den anderen in Anakao hängen gebliebenen Surfern von der Session (sie hören mir dabei mit einer hochgezogenen Augenbraue etwas belustigt zu), fühle mich unverwundbar, mit mir selbst im reinen, und — vielleicht das wichtigste — komplett, ohne Mangel. All die Schichten, die mir die Sicht auf das Wesentliche versperren, legt das Meer frei, und mein Blick wird klar. Ich träume insgeheim davon, in den Wellen zu sterben, darin zu verschwinden, mich im Wasser aufzulösen. Davon sprach der Surfer in Südafrika, und ich verstand ihn, mit jeder Faser meines Körpers.

Jedesmal, wenn ich hier im indischen Ozean auf meinem Brett sitze und zum Horizont blicke, realisiere ich, dass ich mich in diesem Moment in einer Masse befinde, die den ganzen Planeten umspannt, dass ich theoretisch rund um die Welt paddeln könnte, und der Gedanke ist so überwältigend, dass er mich vor Staunen zum Lachen bringt. Nichts ist so sinnlos wie surfen, und nichts macht so süchtig.

 

Das Gefühl der Vollkommenheit gab mir bisher nur meine Arbeit, und das war wohl auch der Grund, warum ich nie Pause davon machte, weil es einfach keinen Anreiz dafür gab. Hier, mit endlos vor mir ausgebreiteten Tagen, fühle ich mich oft wieder wie ein Kind. Denn was ist man sonst, wenn man keiner produktiven Tätigkeit nachgeht? Früher streunte ich fast jeden Nachmittag nach der Schule mit meinen Brüdern und Nachbarskindern durch Wiesen und Wälder. Wir stauten Bäche und bauten Hütten. Wahrscheinlich romantisiere ich das alles, aber es war grossartig, und wir waren frei. Hier ist es gleich: Wenn meine Jungs und ich nicht surfen gehen, segeln wir auf verlassene Inseln, grillieren dort Fische und Bananen, erzählen uns dies und das (hauptsächlich sprechen wir vom Meer), wir verbringen hunderte von Stunden zusammen, so dass mir die Vorstellung, irgendwann wieder abzureisen, absurd erscheint, denn so selbstverständlich ist alles, so sehr mir vertraut. Ich hab’ meine Beine gefunden, bin losgelaufen … und jetzt lerne ich zu bleiben.

 

*“Eines Tages — und das wird recht bald sein — findest du deine Beine, und gehst, und bleibst weg.” Liedzeile aus Ray LaMontagnes Song Beg, Steal, or Borrow. Eine Version dieses Artikels erschien am 6. September 2020 auf Bluewin.

 

At the beginning of March I posted a surf kitsch picture on Instagram: My beloved board, photographed here on the beach in Anakao at sunrise, with the line “One of these days—and it’s gonna be right soon—you’ll find your legs, and go, and stay gone.”* That was pre-Corona, and I had no idea then how much these words would come true in the coming months.

 

I’ve been living in this fishing village in southwest Madagascar for seven months now. Anakao nestles against a turquoise-blue lagoon and can only be reached by boat. On moonless nights, the glow of the Milky Way bathes the huts and the pirogues parked on the beach in a misty veil. I originally came here to surf; when the Malagasy president announced a few days after my arrival that the island would be cordoned off because of Covid-19, but there was still a brief opportunity to gather up one’s belongings, rebook flights and retreat to Europe, I decided to stay.

 

For the past two years I’ve been spending a large part of my time in Madagascar. The idea of returning to Switzerland because of Corona, without knowing when I would ever see the sea and the island again, seemed unbearable to me. Before moving, I had lived in Zurich for 18 years and worked as a freelance photographer, a life that over time frustrated me more and more, and so I decided to put an end to it. I wanted to finally tackle what has always been my dream: to be a photojournalist in Africa, and I knew that would only work if I moved my butt to Africa, too.

 

I had nothing to lose. Maybe things would fall apart. Or maybe they wouldn’t. How else do I know where my limits are if I don’t explore them? Living in a warm place makes my life a lot easier, and in the past two years I’ve succeeded in getting closer to my goal: I researched, wrote proposals, photographed, interviewed, got in touch with international editors, and after a while received assignments. I worked in Madagascar, Mauritius, Kenya and South Africa, traveled to New York for portfolio interviews, and occasionally back to Switzerland when I had a job there. At the same time, I finished a long-term book project about lesbians in Johannesburg. I never spent more than three weeks in one place, and no matter where I was, I was magically drawn to the water and tried to find waves. When I wasn’t in Mada, I missed the island in my bones.

 

When I arrived in Anakao in March, my original goal was to stay five weeks, surf as much as possible, read, write a little now and then, improve my Malagasy, but above all “enjoy my life.” I had forgotten how to do that lately.

 

I often feel like I have no life of my own, but only document the lives of others … I feel safe this way; it’s easy for me to see and to be interested in other people. (In dark moments I wonder whether I even deserve a life of my own.) I always had the feeling that I had to prove myself first, that I had to achieve something before I could take care of myself. Why? I wish I knew. Most of the people close to me aren’t driven by this anxiety, and I often envy them. The longer I am here, the more I notice my restlessness. The biggest challenge for me during lockdown is feeling unproductive and finding a way to deal with it.

 

I came to Anakao with little more than a board and a pair of shorts. When I realized in April that I wasn’t going to get out of here anytime soon, I started to seriously worry: Shouldn’t I be studying Malagasy nonstop? I’d left my cameras in Antananarivo—if I can’t take photos, I should probably write at least three hours a day? But then I also want to see progress in the water! The more I put myself under pressure, the less it worked and the more frustrated I became with my ambition. On some days, I feel like a complete failure, alone at the end of the world, with neither a mission nor a goal. Then I curse my decision to stay and ponder why I was so naive.

 

I am often ashamed of these inner conflicts and insecurities that seem insignificant to me compared to real problems. I am privileged: I have a roof over my head, daily meals and no financial worries, unlike the people in the village who despair because of Corona. The lockdown that has been dragging on since March has nothing to do with their lives, and it seems to me that they’re having a hard time grasping the scope of the pandemic: Few of them have ever left the province. The capital Antananarivo has been cordoned off since March and the number of cases there is increasing. There are no Covid-19 patients in Anakao, but there is a curfew and the school has been closed since March; sometimes gendarmes visit for a few days and patrol, and everyone dutifully covers their face. As soon as they leave, people stow the masks away.

 

Anakao mainly lives off tourism, but most of the hotels have long been closed and the villagers are hungry. Basic food prices have doubled, while fish sales have collapsed: If everyone goes fishing, nobody will buy fish anymore. Two women told me that their épiceries were recently attacked. When people talk to me about their worries, their tension is palpable. A fisherman I sometimes see for coffee said that at least he now has enough time to think about life. Unfortunately, he came to the conclusion that life was difficult. I could only agree with him.

The real reason I wanted to stay in this God-forsaken off-the-grid town is the ocean—this strange beast that has a mind of its own, that changes from hour to hour … that currently teaches me things I apparently had the need to learn.

 

The Malagasy call the sea ranomasina, “holy water.” A South African surfer told me at the beginning of the year that he loved the sea so much because the ocean cleanses his soul, and I’d asked myself at the time what dirt had the soul of this 22-year-old already accumulated in his young life, but every day that I’m here, I think back to his words.

 

It’s true: The ocean absorbs sadness and anger, and relieves my often heavy heart. The ocean doesn’t care if I’m a good surfer or not, and I can’t force it be kind to me. It took me a few months to recognize and accept this rather obvious fact. On the days when I sail out to the reef fully motivated, thinking that I will prove to everyone that I am the incarnation of Kelly Slater, I don’t catch a single wave and cry my eyes out in my beach bungalow afterwards, frustrated and disappointed with myself.

 

On the days when I sit on the pirogue discouraged and despondent, desperately in need of an espresso, but finally at some point think that, well, since I’m already here, I should take thirty minutes of this shit, but not a single minute more … on those days the ocean opens up to me and I am kissed by God on all the countless waves I catch. Four hours later, I return home exhausted, but radiant and full of joy, I recount the session to the other surfers who are stuck in Anakao (they look at me slightly amused, with a raised eyebrow), and I feel invulnerable, and—perhaps most importantly—complete, without defects. All the layers that obscure life’s essential truths are exposed by the sea, and it makes me see clearly. I secretly dream of dying in the waves, of disappearing, of being dissolved in the water. This is what the surfer in South Africa spoke of, and I know what he was talking about, with every fiber of my body.

 

Every time I sit on my board here in the Indian Ocean and look at the horizon, I realize that at this moment I am in a mass that spans the whole planet, that I could in theory paddle around the globe, and the thought is so overwhelming that it makes me laugh with amazement. Nothing is as pointless as surfing, and nothing as addicting.

So far, only my work has been able to give me that feeling of perfection, and it’s probably the reason why I never took a break from it, because there simply was no incentive. Here, with days stretched out endlessly before me, I often feel like a child again. For what else are you if you don’t engage in any productive activity? I used to ramble through meadows and forests with my brothers and neighbourhood kids every afternoon after school. We dammed streams and built huts. I probably romanticize all of this, but it was great, and we were free. It’s the same here: When my guys and I don’t go surfing, we sail to deserted islands, grill fish and bananas, we tell each other this and that (mainly we talk about the sea), we spend hundreds of hours together, so that now the concept of leaving Anakao seems absurd, because everything here feels so natural, so familiar to me. I’ve found my legs, I left … and now I’m learning to stay.

 

*Lyric from Ray LaMontagne’s song Beg, Steal, or Borrow